Rüdiger Neukäter

"Unterwegs in Nordindien und RajastHan"

 

Blick ins Buch

 

Ein indisches Porträt

Murli

Ich stelle mir vor, wie Murli zu seiner Frau kam. Ich weiß nur wenig von ihm. Dass er mit vollem Namen Murlidhar Bissa heißt und Fremdenführer in Jaisalmer ist. Er liebt diese Stadt, möchte nie von ihr fort und hat sie bisher auch selten verlassen. In Jaisalmer sei es immer schön, die Menschen seien freundlich, es gebe eine hohe Kultur und das Wetter sei gut. Wenn es nur nicht so heiß wäre. Fünfzig Grad im Juni. Dann sei Jaisalmer ein Backofen. Murli ist Mitte dreißig, dünn, nicht übermäßig groß. Ein schmales Handtuch, könnte man sagen. Seine Haare sind tiefschwarz, wie die dichten Brauen über den wachen Augen im schmalen Gesicht. Als ich ihn zum ersten Mal sehe, steht er im Hintergrund, der Local Agent unseres Reiseveranstalters stellt ihn uns vor: „Your guide. He speaks very well English:” Gleich darauf entfaltet sich Murli zu voller Wichtigkeit: Sein Englisch ist perfekt, außerdem spricht er Französisch, und Deutsch wird er jetzt lernen. In einem halben Jahr wird er es können. Bescheidenheit ist nicht seine Stärke. Murli, so heißt die Flöte Shivas, des Zerstörers und Wiedererweckers, des Gottes mit den zahllosen Inkarnationen. Vielleicht ist Murli auch eine Inkarnation Shivas. Murli führt uns durch seine Stadt. Wenn er nicht erklärt, summt er vor sich hin oder singt leise. Er singt gerne, sagt er, er ist eben die Flöte Shivas.
Was weiß ich noch von Murli? Er ist Brahmane. Das bedeutet, er gehört zur intellektuellen Oberschicht. Brahmanen können arm sein, aber immer sind sie diejenigen, denen Ehrerbietung entgegen gebracht wird. Den Brahmanen braucht ein Hindu wie das tägliche Wasser: bei Geburt, Eheschließung, Tod, bei Gebet und Ritual, bei Streit und Kummer. Was wären die Dörfer und was wäre Indien ohne die Priesterkaste der Brahmanen. Murli ist stolz auf seine Kastenzugehörigkeit. Er trägt sie wie einen unsichtbaren Verdienstorden. „Seht mich an, ich gehöre zu den Edlen des Landes!“
Murli hat zwei Töchter. Damit ist er gestraft. Zwei Töchter, das bedeutet, zweimal eine Blume in Nachbars Garten zu hegen und zu pflegen, das bedeutet Geld ausgeben für etwas, das einmal einem anderen gehören wird, das bedeutet Sorge und Mühe, den rechten Mann für die beiden zu finden, das bedeutet zweimal Mitgift und das bedeutet viel viel Geld. Murli, die Flöte Shivas, ist ein Pechvogel. Doch er trägt sein Geschick singend und mit Adel. Er ist schließlich Brahmane.
Murli hat eine Gemahlin. Ich stelle mir vor, wie Murli zu seiner Gemahlin kam. So wie die meisten indischen Männer. Liebesheiraten sind die Ausnahme. Sie werden, höre ich immer wieder, viel häufiger geschieden als die traditionellen Ehen. Traditionelle Ehe, das geht so: Murli braucht eine Frau. Er sieht den verschleierten Mädchen nach, reibt sich die Schenkel, greift sich in den Schritt. Murlis Vater sieht, der Junge ist reif. Er zieht die Mutter zu Rate. Im Hause hat sie ein Wort mitzureden. Ein Wort, aber nicht viel mehr. Der Vater berät sich mit den Brüdern. Wo in der Nachbarschaft findet sich ein Mädchen, das zu dem Ältesten passt. Sie soll schön, züchtig, devot, und natürlich unberührt. Eine ansehnliche Mitgift soll sie auch mitbringen. Schließlich soll es dem Jungen nicht schlecht gehen. Vater will nur das Beste für seinen Ältesten. Er wird schließlich fündig, spricht mit dem Brautvater. Gespräche von Mann zu Mann, von Geschäftspartner zu Geschäftspartner. Endlich: Hand drauf. Man ist sich einig. Murli erfährt es bald, das Mädchen später. Sie werden ein Paar werden. Was die Eltern tun, ist recht getan. Murlis Familie lebt traditionell, so wie es sich gehört. Sicherlich hat Murlis Herz geklopft, als er die Entscheidung des Vaters vernahm, doch er weiß, dass er gute Eltern hat und dass sie das Richtige für ihn tun werden.
Der Tag der Eheschließung. Da greife ich zu einem Bild, das ins im Dorf Rohet Ghar begegnete. Trommelwirbel, Menschenauflauf. Alle Blicke gehen in eine Richtung. Ein Hochzeitszug naht. Vorweg drei Musikanten, dann folgen die Männer und zwischen ihnen sitzt hoch zu Ross der Bräutigam, bunt gekleidet und schön anzusehen. Danach kommen in grellbunten Kleidern die Frauen. Achtzig Menschen vielleicht machen den Hochzeitszug aus, der mit Trommeln und Flöten zum Haus der Braut zieht. Dort wird der junge Mann seine Zukünftige zum ersten Male sehen. Ich kann mir seine erwartungsvolle, angespannte Angst vorstellen. Wie mag sie aussehen, mit der er das Bett teilen, die seinem Haus vorstehen und die ihm Söhne gebären soll. Söhne natürlich, Töchter sind unerwünscht. Ist die Braut hässlich, schön, ansehnlich, unansehnlich? Das Leben ist voller Überraschungen.
So könnte Murli zu seiner Frau gekommen sein. Seine Eltern, antwortet er auf meine Frage, haben eine gute Wahl getroffen. Nur, wie gesagt, die zwei Töchter ... .

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Leseprobe

Warum ich mir Indien antue?

Aller guten Dinge sind drei.
Dreimal waren wir nun in Indien.
Damit sollte es genug sein?
Mitnichten.
Indien ist so unendlich groß, so unglaublich anders, so unfassbar fremd. Wir waren das erste Mal in Rajasthan, das zweite Mal in Südindien und nun zum dritten Mal wieder in Nordindien. Ein Stück weit Wiederholung der ersten Reise, aber neu waren, und darauf vor allem kam es mir an, Khajuraho und Varanasi. Ildiko, meine Frau, hatte vor der Reise gemeutert: Nie wieder wolle sie nach Indien, doch ich setzte mich durch. Sie meint, „wie immer“, was aber nicht stimmt. Nach der Reise meinte auch Ildiko, wir sollten noch einmal in dieses Land reisen. Mindestens noch einmal. Nach Kerala vielleicht oder hoch in den Norden nach Darjeeling oder Sikkim.
Warum wollen wir uns das antun? Um Indien zu verstehen? Nein, das wäre vermessen. Vielleicht braucht es ein ganzes Leben, das Tor zum Verstehen zu öffnen. Ein Leben unter Indern, in Dörfern und Städten, Im Süden und Norden, in Slums und Palästen. Doch ich bin nicht einmal sicher, ob Inder ihr riesiges Land, diesen Subkontinent, verstehen.
Nie ist mir ein Land so fremd gekommen.
Abgestoßen und fasziniert zugleich bin ich durch Paradies und Fegefeuer gereist, mit offenen Augen und dennoch blind. Was mir begegnete, war heiß und kalt, oberflächlich und abgründig, gut und böse, ernst und heiter.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich, wäre ich englischer Kolonialoffizier in Indien gewesen, nicht auch Verachtung für die Menschen dieses Landes empfunden hätte. Verachtung über ihre Apathie, mit der sie Armut und Ungerechtigkeit hinnehmen, ihr Unverständnis gegenüber Schmutz, Unordnung, Chaos. Hygiene, Sauberkeit, Ordnung und Regeln scheinen immer noch fremde Begriffe zu sein. Wie können Millionen Menschen so resistent sein gegenüber den Errungenschaften der Zivilisation.
Zugleich aber gibt es das moderne Indien, das der Computerspezialisten, der High-Tech-Ingenieure und Netzwerker. Wo aber ist dieses moderne Indien? Ist das moderne Indien in den Touristenhotels zu entdecken? In den zahlreichen Internet-Cafés, in der Weltgewandtheit der Fremdenführer? Wenn es das ist, ist es wenig. Ich will nicht bezweifeln, dass es das Indien des 21. Jahrhunderts gibt, doch es verbirgt sich, entzieht sich den flüchtigen Touristenblicken. Überall aber begegnete uns jenes alte Indien, das vor hundert Jahren genauso ausgesehen haben mag. Die überladenen Autobuswracks, knatternden Tuk Tuks, stinkenden Mopeds muss man sich wegdenken. Mein Drei-Wochen-Indien war uralt und zeitlos, jenseits von Gut und Böse.
Indien verstehen? Nein, ganz und gar nicht.
Indien ist abschreckend, schmutzig, laut, hoffnungslos überbevölkert, frauenfeindlich und vieles mehr, was eigentlich von einer Reise abhalten sollte. Das geht schon mit dem Visum los. Nicht nur, dass es mit fast hundert Euro unverschämt teuer ist, nein, es ist ohne Hilfe kaum ausfüllbar. Da wird nach der genauen Reiseroute mit allen Stationen, der Telefonnummer des Reiseveranstalters in Indien, nach Namen, Geburtsort und Beruf des Vaters und auch der Mutter (ich selbst bin über 70 Jahre alt) und nach allerlei Weiterem gefragt. Bei dem Geschlecht kann man sich zwischen männlich, weiblich oder neutral entscheiden. Drei Seiten ist das Formular lang, mit engen Zeilen, vielen Kästchen und natürlich in Englisch. Es gibt einen kleinen Vorgeschmack auf die indische Bürokratie. In jedem Hotel besteht man auf der genauesten Eintragung sämtlicher Daten.
Ist man in Indien angekommen, egal ob in Delhi, Mumbai oder Chennai, begrüßt einen eine Warteschlange am Einreiseschalter und feuchte Hitze. Müde vom Flug und verschwitzt in den viel zu warmen Klamotten sitzt man dann in einem Taxi oder Shuttlebus, freut sich auf die baldige Dusche im gebuchten Hotel und steht plötzlich im Stau. In Delhi ging es fast drei Stunden lang schrittweise voran. Aber da das für Inder normal ist, gab es überall nur freundliche Gesichter.
Das indische Essen, naja!. Es gibt Menschen, die halten die indische Küche für die beste in der Welt, ein weites Panorama von Sinneseindrücken. Ich bin bekennender westeuropäischer Fleischfresser und für einen solchen sieht es in Indien schlecht aus. Trockenes Hähnchen, sonst kaum etwas. Indien ist Vegetarierland. Und man isst scharf, unglaublich hot and spicy. Wenn man den Rat des Kellners „It‘s too spicy for you“ missachtet, schwitzt man sich die Seele aus dem Leib und erleidet Höllenqualen zwischen Gaumen und Magen.
Die Fortbewegung? Mit dem Auto langsam über holprige Straßen, mit der Bahn unbequem, aber billig. Aber man kommt voran.
Hygiene? Kann man vergessen. Wer nicht in Indien war, kann nicht mitreden über Umweltverschmutzung, Müll und die Folgen mangelnder Hygiene. Aber nach drei Wochen Indien ist man abgehärtet und findet zu Hause alles übertrieben sauber.

Warum also tun wir uns dieses Land an?
Weil es so exotisch ist, dass man kaum aus dem Staunen kommt. Da sind die Paläste der Rajputen, die Forts und Mausoleen der Moguln im Norden, die unbeschreiblichen Tempelanlagen im Süden und Städte, die bersten von Leben und Überschwang.
Da sind die Menschen, die, ob bettelarm oder stinkreich, gerne und viel lachen. Auch wenn es nichts zu lachen gibt.
Da ist die unglaubliche Farbigkeit des Landes. Indien ist bunt, fast bis zur Schmerzgrenze. Selbst die Bettlerin mit dem Kleinkind im Arm trägt noch die farbenprächtigsten Gewänder. Die Saris der Frauen glänzen in allen Regenbogenfarben.
Da ist die unendliche Vielzahl der Fotomotive. Menschenbilder, Landschaften, Stimmungen. Nach drei Wochen Indien brachten wir weit über tausend Fotos mit, schon gelichtet, wohlgemerkt.

Sind das genügend Gründe für eine Reise in ein Land, in dem es mehr als drei Millionen Götter, seltsamste Religionen und schlimmsten Aberglauben, tausende Völker, ebenso viele Sprachen und Dialekte, die unterschiedlichsten Landschaften, höchste Berge und trockenste Wüsten gibt? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass mich Indien fasziniert. Irgendwie, und dass ich noch einmal dorthin möchte.
Mindestens noch einmal.