Rüdiger Neukäter

Alter Ego

 

Blick ins Buch

(Kein) Vorwort

     Ich bin ich. Ich bin mir heute wichtig und ich war mir früher wichtig. Meine Freuden, meine Leiden nahm ich Ernst, meine Freunde und Feinde waren mir wertvoll. Und die, die mir nahestehen. Natürlich bin ich nicht allein. Da sind noch ein Herr Ziemer, seine Frau und Kinder, Sylvia und der Sohn. Auch ihr Erleben war und ist Teil von mir.

     Es macht mir Spaß, mich zu maskieren. Das Leben ist ein Rollenspiel. ‚Alter Ego‘! Mein altes Ich, aber auch ein anderes Ich: Der Reisende, der Unternehmer, der Schnäppchenjäger. Auch meine andere bessere Hälfte spielt verschiedene Rollen.

     Beobachten, was ist, nachdenken darüber, was wäre, wenn…? Das Leben im Rückwärtsgang oder „Ich als Frau“. Warum nicht?

     Allen meinen Lesern wünsche ich bei der Lektüre viel Freud und wenig Leid.

Rüdiger Neukäter

 

Ich als Frau (Eine Geschichte ohne Ende)

     Zweifellos bin ich im letzten Drittel angekommen. Menschen werden heutzutage älter, aber trotzdem, das Ende ist absehbar. Zeit daran zu denken, wie es weitergeht. Geht es denn weiter? Himmel, Hölle, das Paradies, Nirwana, Rendezvous mit den Ahnen? Das Jenseits-Menü bietet eine reichhaltige Auswahl. Ich gestehe, dass mir die Vorstellung von der Reinkarnation sympathisch ist. Dieses eine Leben kann doch nicht alles gewesen sein! Knock-out und ein für allemal Schluss? Ich würde gerne mein Come Back erleben. You only live twice! Mindestens. Das erste Mal, genauer gesagt, dieses Mal, bin ich als Mann zur Welt gekommen. Hätte natürlich auch anders sein können. Ein paar Spermien väterlicherseits mehr und ich wäre Frau geworden oder Nullnummer. So bin ich eben als Mann geboren, besser gesagt, ich bin männlichen Geschlechts, denn ‚Mann‘ beinhaltet ja vieles mehr. Ich fand und finde mein männliches Leben durchaus spannend, lebenswert, interessant. Doch der Gedanke, noch einmal das Gleiche durchzuspielen, haut mich nicht vom Hocker. Mal etwas anderes! Es lebe der Kontrast! Natürlich weiß ich nicht, ob ich Einfluss auf das Programm habe, ob der Programmierer manipulierbar ist. Lässt sich Gott, oder wer sonst auch immer, ins Handwerk pfuschen?

     Ich stelle mir vor, dass ein plötzlicher Herztod mich dahinrafft. Ich weiß, das wünscht sich jeder, so ein heftiges, schnelles Dahinscheiden. Leicht verträglich für einen selbst und alle Hinterbliebenen.

Schluss, Ende, aus!

Szenenwechsel!

     In einer Hütte am Rande des Dschungels liegt Nilanti auf einer Strohmatte in Wehen. Die Schmerzen machen ihr zu schaffen. Kamal, der Gatte, hält ihr die Hand, doch viel helfen kann er nicht. Er wischt den Schweiß von ihrer Stirn. Wie sehr wünscht er sich einen Sohn.

     Nilanti verspürt auf einmal heftiger werdende Krämpfe, die sie in immer kürzeren Abständen überfallen. Dann kommen die Presswehen. Nilanti bündelt alle ihre letzten Kräfte, arbeitet, kämpft und dann, dann ist das Kind auf einmal da.

     Der erste Schrei. Und die Enttäuschung des Vaters: Ein Mädchen!

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Leseprobe

Saubande dreckerte

     Seit genau 25 Minuten hänge ich in der Warteschleife. So nennt man das wohl, wenn die freundliche Mädchen­stimme einem bedeutet, man solle nicht aufgeben.

   „Bitte legen Sie nicht auf. Wir sind gleich für sie da. Die nächste freie Leitung ist bereits für Sie reserviert."

   Leise und beruhigend säuselt eine Melodie, die mir bekannt vorkommt. Es sind immer Musiken, die man schon mal gehört hat. Aber wann und bei welcher Gele­genheit, das fällt einem nie ein. Wahrscheinlich wollen sie, dass man darüber ins Nachsinnen gerät, denn, wenn man nachdenkt, den Hörer am Ohr, legt man nicht auf. Natürlich ist mir dieses Elend mit den Hotlines nicht neu. Jeder kennt das. Man ruft an und schon hängt man an der langen Strippe.

   Alle unsere Leitungen sind momentan belegt".

   Natürlich sagt dir keiner, wie viele Leitungen es gibt. Vielleicht nur eine. Egal, du legst nicht auf. Du könntest ja im nächsten Augenblick dran sein.

   „Übrigens, Sie erreichen uns von 9.00 Uhr bis 22.00 Uhr von Montag bis Samstag."

     Und wieder Musik. Nicht die gleiche, aber verdammt ähnlich. Eine bekannte Melodie. Woran zum Teufel erin­nert die mich? Damals, als ich mit Gisela ...? Nein! Quatsch! In Budapest in der kleinen Pianobar. Der Musi­ker spielte ununterbrochen irgendwelche Evergreens, ‚Blue Spanish eyes', ‚La Paloma', oder so. Egal. Noch zwei Minuten, dann lege ich auf. Endgültig.

   Jetzt fällt mir der Titel ein: Greensleeves, oder Greenleaves, jedenfalls war das so ein Song, der in den Sechzigern an jedem Lagerfeuer gesungen wurde. Joan Baez und Bob Dylan, mein Gott, waren das Zeiten, kein Computer, kein Handy und keine Warteschleife. ‚Warteschleife', ich glaube, der Begriff kommt aus der Luftfahrt. Wenn ein Flieger nicht landen darf, fliegt er eine Warteschleife, oder drei oder vier, immer im Kreis rum, bis er abstürzt, rumms, dann ist die Warteschleife zu Ende. Am Telefon kann man nicht mal mehr abstürzen.

   Das ist immerhin schon mein dritter Versuch: Gestern Nachmittag zehn Minuten, am Abend fünfzehn und jetzt: „Bitte legen Sie nicht auf. Wir sind gleich für Sie da!"

   Arschlöcher. Nicht mit mir! siebenundzwanzig Minuten, jetzt reicht es. Was so ein ‚Hold the line' kostet. achtundzwanzig Minuten, das leppert sich. Andererseits, wenn ich jetzt auflege, waren die achtundzwanzig Minuten auch für die Katz, vielleicht hänge ich das nächste Mal noch länger in der Leitung, ehe sich je­mand bequemt.

   Der Wanninger hatte wenigstens damals jemanden an der Strippe, die Buchhaltung oder den Herrn Direktor Klotz, jedenfalls jemand, dem man seine Meinung sagen konnte. Aber was fängst du mit einer Tonband-Stimme an. Du könntest dir in den Allerwertesten beißen vor Frust und kannst nichts machen. Außer auflegen natür­lich.

   Den Wanninger kennen Sie nicht!? Jeder kennt doch den Wanninger, Buchbinder Wanninger. Also, der Karl Valentin aus München, der Volkskomiker, der ist der Wanninger. Der ist Buchbinder und der hatte den Auftrag, irgendwelche Bücher zu binden, und die Bücher, die hat er jetzt fertig und deswegen ruft er an bei der Firma und da ist keiner zuständig und der Wanninger sagt immer wieder dasselbe und hängt da so, wie ich jetzt, in einer Warteschleife und am Schluss sagt er „Saubande dreckerte", weil, als er endlich den richtigen erwischt hat, machen die Feierabend. Und da ist er halt stinkig, der Volkskomiker aus München.

   Ha, da, jetzt tut sich was. Jedenfalls hat die Musik aufgehört. Nee, doch nicht, geht wieder von vorne los. Das gleiche Lied! Jetzt reicht es wirklich. vierzig Minuten, was glauben die denn, wer ich bin!

   „Hier ist die Hotline der Firma Motion. Mein Name ist Karin Möller. Was kann ich für Sie tun?" „Ja, hallo, ist dort ..., ja, mein Name ist Heinz, äh, Heinrich, ja, Heinrich Koppel ....“

     Vor lauter Aufregung fange ich an zu stottern. Ist ja kein Wunder, wenn du mehr als eine halbe Stunde war­test, und plötzlich ist einer da, der mit dir spricht. Dass du dann unvorbereitet bist, ist doch klar. Ich will also gerade anfangen zu schimpfen, „Also wissen Sie, ich warte jetzt fast eine Stunde, Unverschämtheit" und so weiter, da fällt mir ein, dass das Mädchen ja nichts dafür kann, und außerdem hat sie wirklich eine nette Stimme. Also höre ich mich sagen, dass es schön ist, dass ich jetzt endlich dran bin. Außer mir selbst versteht wohl keiner diese subtile Iro­nie. Das passiert mir immer: wenn ich so richtig geladen bin, kann ich meine Wut nicht raus lassen. Immerhin, schaffe ich es wenigstens, mein Anliegen vorzubringen. „Mein Pocket-PC, neu gekauft, reagiert gar nicht mehr. Zeigt nur noch einen blöden Willkommens-Bildschirm. Soft reset? Habe ich schon versucht. Hard reset auch schon!" Wie alt mag die nette Hotline-Stimme sein? Wahr­scheinlich blond und superschlank. Klar, dass man hüb­sche Mädchen an die heißen Leitungen setzt. Rufen so­wieso nur Männer an, und die lassen sich sofort einwi­ckeln.

   „Meine Kundennummer? Nein, habe ich nicht parat. Ob ich schon mal Kunde war? Ja, war ich." Ich buchsta­biere meinen Namen und die nette Stimme diktiert mir meine Kundennummer. Und dann sagt sie, dass sie jetzt durchstellt zur Technischen Kundendienst-Hotline. „Nein!" schreie ich, doch es ist bereits zu spät. Eine mol­lige Musik umsäuselt mein Ohr und eine freundliche Stimme rät mir, jetzt nicht aufzulegen. Natürlich lege ich jetzt nicht auf, so knapp vor dem Ziel. Wenigstens haben sie jetzt einen anderen Song aufgelegt. Auch so ein Ohr­wurm, von dem mir natürlich der Name wieder nicht ein­fällt. Also, ich hoffe nicht, dass das Anzeichen von Alzheimer sind. Ich warte und finde in der Zwischenzeit meine Kundenummer.

   „Technische Kundenberatung. Was kann ich für Sie tun"? Eine Männerstimme. Natürlich hat mich die plötzliche Verbindung wieder kalt erwischt. Aber wenigstens stot­tere ich dieses Mal nicht. Meine Kundennummer steht auf einem Zettel. Ich teile sie unaufgefordert dem Herrn Berater mit und dann hört der Typ sich mein Problem an und dann, was meinen Sie, was dann passiert? Genau! Das, was dem Buchbinder Wanninger auch passiert ist!

   „Ich stelle Sie durch zum Technischen Kundendienst. Bitte bleiben Sie am Apparat!" Und schon habe ich wie­der ein mittelgroßes Streichorchester im Ohr.

    „Bitte legen Sie nicht auf. Wir sind gleich für sie da. Die nächste freie Leitung ist bereits für Sie reserviert."

     Irgendetwas zieht sich in meinem Bauch zusammen, krallt sich in mein Gedärm. Ich spüre, wenn ich jetzt nicht etwas tue, werde ich explodieren. Eine eklige Vor­stellung, wenn meine tausend Einzelteile sich im Zimmer verteilen. Die Decke ist blutverspritzt, Fleischfetzen kle­ben an den Wänden und die weiße Gehirnmasse ..., igitti­gitt! Meine Hände schwitzen, in meinem linken Ohr klopft der Tinnitus, das rechte ist so heiß, da könnte man Spiegeleier drauf braten. Es muss etwas geschehen. Aber was? Ich bin mutterseelenallein, allein in der großen, weiten Welt und es gibt nur zwei Möglichkeiten: Aufle­gen oder Warten!

     Ich entscheide mich für die dritte Möglichkeit: Ich löse mich auf, verringere mich bis zur Unsichtbarkeit, werde winziger als winzig, atomisiere mich und gleite durch eines der kleinen Löchlein am Telefonhörer in die Leitung. Wie ein Blitz rase ich durch irgendwelche Glas­faserkabel, bin nur Geschwindigkeit, Wut, Empörung, Frust, und wie der Teufel durch den Kamin platze ich Schrecken erregend in die Telefonidylle der Motions­bande.

     Da sitzen sie: Vier Damen, gar nicht hübsch, gar nicht blond, brave Hausfrauen und mittelalte Nebenverdiene­rinnen, den Stöpsel im Ohr und ein blinkendes Schalt­brett vor sich. Wie ein Hurrikan stürzt mein atomisiertes Neben-Ich in das Nest, reißt Anschlüsse heraus, zerrt an Kabeln und schreit und röhrt und wütet. Die vier Damen kreischen.

     Auf einmal vernehme ich eine ruhige und sachliche Stimme. „Technischer Kundendienst der Firma Motion." Ein freundlicher Herr entschuldigt sich dafür, dass ich so lange warten musste und erkundigt sich nach meinem Verlangen. Ich fühle mich ganz klein und schäme mich. So viel Entgegenkommen hatte ich gar nicht mehr er­wartet. Ich nehme allen Mut zusammen und erkläre mein Problem. Geduldig hört dieser Mensch mir zu. Schließ­lich  unterbricht er mich aber doch: „Schicken Sie uns bitte das Gerat ein! Unfrei und un­ter Hinzufügung der Garantiekarte. Danke und auf Wie­derhören!"

     Und legt auf. Einfach so. In meinem Ohr dröhnt das Freizeichen.

     „Danke", sage ich „Und auf Wiederhören!" und denke: „Saubande dreckige!"