Rüdiger Neukäter

Spurensuche

Blick ins Buch

Inhaltsverzeichnis

1. Erinnerungen
2. Anfänge
Annahütte: Er ist da!
Fritz und Erna
Dora und der Beginn einer Schwimmkarriere
Kleine Schwester
Die Russen kommen
Doberlug
Blut
3. Wie ein Staat sich seiner Gegner entledigt
4. Nach Berlin
5. Am Niederrhein
6. Exkurs: Heimat
7. Kato Gatzea in Griechenland
Gatzea forever
Camping Hellas
Das erste Mal
Erste Liebe
Sturm
Folklore
Tines Brüste
Die Griechen aus Bottrop
Mein Freund Api
8. Jung sein in Niederbayern
In Zwiesel bei Schott und Genossen
Kino-Kiosk-Knacker
Was heißt hier Liebe?
Peter Pechmann
Von hier nach dort
9. Januar 2019
10. Heilige Gipfel
Mosesberg
Uluru (Ayer’s Rock)
11. Im Frühling nach Mainz (1958)
Das ‚Kuschlo‘ und die ‚Fassenacht‘
Alles Theater
12. Soldat Soldat
13.‚Nyepi‘ - Ein Tag der Stille
14. Mainzer Intermezzo
15. An der schönen blauen Donau
Überleben in Wien
Anette
16. Zurück zu ‚Vater Rhein‘
Die erste Griechenlandreise
Probieren geht über Studieren
17. London und die Hudson’s Bay Company
18. Cherchez les femmes
Die Suche nach Liebe
19. Ildiko und das Ende der Suche

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Leseprobe

Was heißt hier Liebe?
Ist es schon so weit, über das zu schreiben, was sich Liebe nennt? Was wusste ich Grünschnabel davon und was wollte ich wissen?
Heute gibt es unzählige Wichsvorlagen. Aber damals? An eine Aufklärung von Seiten der Eltern oder gar der Schule war gar nicht zu denken. Die Kinder brachte der Klapperstorch. Es war so verdammt mühsam, in diesen prüden Fünfzigern sich ein auch nur halbwegs realistisches Bild von dem zu machen, was alle Welt Liebe nannte. Eigentlich meinte ich auch als junger Hüpfer gar nicht das Gefühl, das sich mit dem Begriff verband. Mir ging es um das, was da vor sich ging, wenn ein Mann und eine Frau miteinander, ja, was eigentlich, taten.
In den bunten cellophanierten Büchern der Leihbücherei fand ich nur Geschichten von Liebespaaren, die sich zwar anschmachteten, aber selbst im höchsten Liebesrausch nicht mehr zustande brachten, als die Lippen heftig aufeinanderzupressen. Das war mir zu wenig.
Zu Hause stand mir außer Vaters technischen Büchern und Mutters Kochbuch nur die Bibel zur Verfügung. Ich wurde für kurze Zeit zum Bibelerkunder. Im Alten Testament, im Hohelied Salomos fand ich einiges, was mich zumindest inspirierte: „Komm mein Freund, lass uns aufs Feld hinausgehen und die Nacht verbringen. Dass wir sehen, ob der Weinstock sprosst und seine Blüten aufgehen. Da will ich dir meine Liebe schenken.“ Oder die Stelle, an der jemand sagt: „Dein Wuchs ist hoch wie ein Palmbaum und deine Brüste gleich den Weintrauben ...“ Ich stellte mir so ein üppiges Weib vor, das mich an der Hand nahm und in besagtes Feld führte. Aber was dann? „Und Adam erkannte seine Frau Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain ...“ Wie dieses Erkennen aber vor sich ging, ließ die Bibel offen. Ich fand das alles zu blumig, wollte es anschaulicher.
Meine Mutter las keine Bücher, aber allzu gern blätterte sie in Zeitschriften. Die Quick und vor allem die Filmrevue fand ich oft auf dem Nachttisch neben ihrem Bett. Und wenn auf einer der Titelseiten bunt und üppig Gina Lollobrigida abgebildet war, verspürte ich ein merkwürdiges Ziehen im Unterleib. Ich zog mich in mein Zimmer zurück und vertiefte mich in die Titelseite der Quick. In einem knallroten Kleid, lässig und aufrecht sitzend, reckte Gina mir ihr offenherziges Dekolletee entgegen. Die roten Lippen waren leicht geöffnet und die Augen sagten mir „Komm!“ Dann war ich wieder mit meiner Fantasie allein und meine Unterhose war nass. Ich schämte mich, weil ich ja wusste, dass Selbstbefriedigung Sünde war und zu schlimmen Krankheiten führen konnte. Ich ahnte auch, warum Mutter wollte, dass es nachts in meinem Zimmer kühl war und die Decke nicht zu dick und zu warm und sie hatte, als ich kleiner war, auch immer darauf geachtet, dass ich mich nach dem Wachwerden kalt abwusch.
1953 kam der Film ‚Die Sünderin‘ mit Hildegard Knef endlich auch in das Zwieseler Kino. Allein schon das Kinoplakat fand ich sensationell und was ich über den Film hörte, dass die Knef ganz nackt zu sehen sei, erregte mich ungemein. ‚Die Sünderin‘ war natürlich nicht jugendfrei und alle meine Versuche, sie zu sehen, schlugen fehl. So blieb mir nur, mich in meiner Vorstellungskraft mit der Knef zu beschäftigen.
Eines Nachts wurde ich wach, ich weiß nicht, wovon. Mein Zimmer lag am Ende einer langen Zimmerflucht, am anderen Ende das der Eltern. Ich hörte etwas, undeutlich, aber gerade, weil es so undeutlich war, wurde ich vollends wach. Auf Zehenspitzen schlich ich ins Mittelzimmer. Die Tür zum Schlafzimmer der Eltern war halb offen und aus dem Raum waren seltsame Laute zu hören. Ein tiefes Brummen, ein, zwei Mal ein spitzer Schrei, dann ein Stöhnen, ein Ächzen, ein verhaltenes Aaaah. Mir stockte der Atem. Für Momente dachte ich, mein Herz habe aufgehört zu schlagen. Ich schlich in mein Bett zurück und kroch tief unter die Decke. „Sie tun es“, dachte ich, „Mein Vater und meine Mutter, sie beide tun es!“ Und dann schämte ich mich. Ich schämte mich unglaublich heftig für sie. Meine Eltern! Niemals. Das konnte nicht sein. Eltern tun so etwas nicht. Am nächsten Morgen benahmen sie sich, als sei nichts geschehen. Irgendwann vergaß ich diese Nacht. Vielleicht war es ja auch nur ein Traum gewesen.
Ich schämte mich noch oft und eine Zeitlang wurde das Onanieren mein wichtigstes Hobby. Ich beobachtete mich ängstlich, ob nicht schon Anzeichen von Rückgratverkrümmung oder Ähnlichem zu erkennen waren. Aber je öfter ich fummelte, umso mehr brauchte ich Vorlagen und Anregungen. Wo sonst als in Büchern hätte ich die finden können. Die Auswahl in der Zwieseler Stadtbibliothek war nicht gerade üppig, aber da ich ausdauernd und die Bibliotheksangestellte nachsichtig war, wurde ich doch fündig. Als Erstes fiel mir ‚Lady Chatterley’s Liebhaber‘ in die Hände. Ich muss gestehen, dass ich dieses Buch entwendete, in einem Moment, als die Bibliothekarin sehr abwesend war, genau gesagt, ein Nickerchen machte. Eigentlich fand ich die Geschichte von dieser Connie und dem Wildhüter Mellors eher langweilig, aber die Liebesszenen beeindruckten mich schon. Im Laufe der Jahre bis zu meinem sechszehnten Lebensjahr arbeitete ich mich eifrig durch die einschlägige Literatur der Bibliothek hindurch, bekam den ‚Reigen‘ von Arthur Schnitzler zu fassen und sogar der Roman mit dem verfänglichen Titel ‚Die Memoiren der Fanny Hill‘ wurde mir zur anregenden Bettlektüre. Am besten fand ich die Geschichte von der Josefine Mutzenbacher. Ich lernte dabei allmählich, achtsam mit meinem Teil umzugehen, das meine Mutter mit schöner Selbstverständlichkeit Pillermann nannte und das ordentlich zu waschen ich jeden Tag angehalten wurde. Es war klar, dass auf die Dauer solch theoretische Beschäftigung mit dem Dauerbrenner-Thema meiner mittleren Jugendjahre nicht ausreichen würde. Aber ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie sich praktische Erfahrungen machen ließen.
In meinem Zeugnis vom Juli 1955 steht zwar, ich sei „in letzter Zeit sehr unruhig“, aber der Folgesatz in den Bemerkungen, „sonst zeigte er lobenswertes Betragen. Im Ganzen war er fleißig und arbeitete im Unterricht gut mit“, zeigt eher, wie es um mich bestellt war. Ich war brav, zurückhaltend, schüchtern und traute mich nicht besonders viel. Schon gar nicht traute ich mich an jene Spezies des menschlichen Geschlechts, die als Mädchen die Kleinstadt Zwiesel durchaus zahlreich bevölkerte.
Ute war eine Klasse weiter als ich und wahrscheinlich schon deshalb mehr an älteren Knaben interessiert. Sie war keine Schönheit, hatte ein etwas pausbäckiges Gesicht, einen Bubikopf und lief meist fröhlich auf kurzen Beinen durchs Leben. Aber ihre Augen schienen mich einladend anzulachen, was ich mir möglicherweise aber nur allzu gerne einbildete. Ute hatte einen fantastischen Busen und wenn sie einen engen Pullover trug, konnte ich nirgendwo anders mehr hingucken. Ich beschloss, mich in Ute zu verlieben, und ich verliebte mich in sie. Dass meine Verliebtheit erwidert wurde und gar auf Gegenliebe stieß, glaube ich eher nicht. Aber darauf kam es gar nicht so sehr an: Ich erregte mich an meinen Gefühlen für sie und wenn ich sie sah, kribbelte es in allen meinen Extremitäten. Ute wohnte nicht weit entfernt, und so war es einfach, ihr jeden Tag zu begegnen. Ich schaffte es, mich etwa zur gleichen Zeit auf den Schulweg zu machen, fuhr nachmittags mit dem Rad so lange an ihrem Haus vorbei, bis sie es endlich auch einmal verließ. Dann bremste ich so heftig und gekonnt vor ihr, dass das Hinterrad einen Schlenker machte und ich mich dafür bei ihr entschuldigen konnte. Ihren Blick interpretierte ich als nicht ganz abweisend und das machte mir Mut. Seit 1954 gab es auch in Zwiesel eine italienische Eisdiele. Im ‚Da Lorenzo‘, hatte ich schon ein paar Mal mutig mein spärliches Taschengeld geopfert und mich zwischen großformatigen Bildern von Venedig und den Dolomiten richtig weltmännisch gefühlt. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und fragte: „Wollen wir ein Eis essen gehen?“ „Nein!“, blitzte mich Ute aus ihren Schlitzaugen an und ließ mich stehen. Ich gab mich cool, sagte „Schade, macht nichts“, trat in die Pedale, den Oberkörper elegant und weit über den Lenker gebeugt und brauste davon. Nach jedem Korb, den ich von ihr bekam, wuchs meine Verliebtheit. Für ein paar Wochen war Ute Tag und Nacht bei mir und in meinen Träumen verdrängte sie sogar Gina Lollobrigida. An einem heißen Julinachmittag lauerte ich meiner Flamme wieder einmal auf. Sie fahre ins Freibad, sagte sie und als ich fragte, ob ich sie begleiten dürfe, erwiderte sie: „Ist mir egal“. Was ich als Aufforderung betrachtete, ihr nicht nur meinen Begleitschutz anzudienen, sondern auch mal richtig zu zeigen, was ich draufhatte. Dass ich ein begnadeter Schwimmer war, hatte sie längst festgestellt, aber dass ich auch ein mindestens genauso ausgezeichneter Radakrobat war, das musste ich ihr jetzt zeigen. Ich fuhr zunächst neben ihr her, versuchte es mit einem Gespräch. Als das nicht klappte, trat ich ein paar Mal kräftig in die Pedalen, hob den Lenker an und fuhr einige Meter nur auf dem Hinterrad. Ute zeigte kaum eine Reaktion, radelte einfach mädchenhaft langsam weiter. Jetzt kam es drauf an: Ich raste an ihr vorbei, trat in die Bremse und schaffte eine Drehung um dreihundertsechzig Grad. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, jedenfalls schien Ute nicht besonders beeindruckt zu sein. Was blieb mir noch als Steigerung? „Bist du schon mal blind gefahren?“, fragte ich neben ihr herradelnd. „Quatsch!“, war die knappe Antwort und die ermutigte mich regelrecht. Ich schloss die Augen, nahm die Hände vom Lenker und radelte blindlings los. Ich machte das nicht zum ersten Mal, doch diesmal, wo es besonders drauf ankam, lag irgendein Stein im Weg. Das Vorderrad scherte aus, ich verlor die Kontrolle und stürzte in hohem Bogen auf die Straße. Der Schmerz, den ich augenblicklich verspürte, war ungleich stärker als der Liebesschmerz. Ute fuhr weiter, als sei nichts geschehen. Ich blickte ihr nach und nicht nur mein Arm tat fürchterlich weh, sondern auch mein gepeinigtes Herz. Immerhin sagte Ute am Schwimmbad Bescheid, dass mir etwas passiert sei und wenig später kam auch tatsächlich Hilfe. Ich wurde ins Krankenhaus gebracht und geröntgt. Mein rechter Arm war gebrochen und wurde bis über den Ellenbogen eingegipst. Mit dem Radfahren, Schwimmen, Tennisspielen war es für zwei Monate vorbei. Und das im Sommer. Was Ute betraf, beschloss ich sehr bald, mich zu entlieben. Es tat zwar weh, aber nach einer kurzen Zeit intensiver Trauer verkraftete ich diese erste Enttäuschung meines jungen Lebens, ohne Schaden zu nehmen.